Richtungswechsel am Himmel
Wenige Branchen wurden von Corona so hart getroffen wie die Luftfahrt. Nun gilt es Ideen zu entwickeln, um nach der Krise durchzustarten. Digitalisierung und Nachhaltigkeit spielen eine wichtige Rolle.
Aufwärts, immerzu aufwärts: Lange Zeit kannten die Geschäfte von Satair, einem der weltgrößten Händler von Flugzeugteilen, nur eine Richtung. Wachstum war angesagt, nichts als Wachstum, wie fast in der gesamten Luftfahrtbranche. „Unsere größte Herausforderung in den vergangenen Jahren war die Skalierbarkeit unseres weltweiten Geschäfts“, sagt Satair-CEO Bart Reijnen. „Und das natürlich nach oben.“ Seit dem Frühjahr 2020 ist diese Anpassungsfähigkeit abermals gefragt. Sie ist sogar noch wichtiger geworden. Dieses Mal geht es allerdings in die andere Richtung – zumindest vorübergehend.
Die Coronakrise hat die Luftfahrt so hart getroffen wie nur wenige andere Branchen: Anfang April zählte die europäische Flugsicherung Eurocontrol durchschnittlich nur noch 3.200 Flugbewegungen pro Tag – ein Rückgang um fast 90 Prozent zum Vorjahr. Airlines und Flughäfen litten, genauso wie Triebwerkshersteller und Flugzeugbauer. Sie mussten sich innerhalb weniger Tage anpassen. Sie mussten sich aber auch fragen: Wie können wir uns fit machen für die Zeit, wenn das Wachstum wieder losgeht?
Startbahn als Flugzeugparkplatz
„Für die Ostersaison hatten wir uns auf täglich knapp 250.000 Passagiere vorbereitet“, sagt Pierre Dominique Prümm, Vorstandsmitglied der Fraport AG. „Innerhalb sehr kurzer Zeit waren es dann nur noch 5.000 bis 7.000 Passagiere.“ Prümm musste weite Teile der Terminals schließen, eine Startbahn wurde zu einem Flugzeugparkplatz. Es galt, Kurzarbeit zu organisieren und Liquidität zu beschaffen. Statt voller Flüge standen Spuckschutzwände, Abstandsmarkierungen und Desinfektionsspender auf der Tagesordnung.
Auch beim Triebwerkshersteller Rolls-Royce war Hygiene plötzlich das alles bestimmende Thema. „So wichtig Produktivität auch ist, Arbeitssicherheit hat immer oberste Priorität“, sagt COO Sebastian Resch. Eine Woche lang blieben daher die Fabriken in Großbritannien geschlossen, um gemeinsam mit Arbeitnehmervertretern Hygiene- und Social-Distancing-Konzepte zu entwickeln und zu implementieren. Unter anderem haben die einzelnen Schichten seitdem keinen Kontakt mehr untereinander. Viel Zeit wurde zudem investiert, um den Mitarbeitern die Veränderungen zu verdeutlichen und damit zu einem höheren Sicherheitsgefühl beizutragen. „Das hat einen unglaublichen Unterschied gemacht“, sagt Resch. Und: Wer nicht direkt vor Ort an den Triebwerken arbeiten musste, wurde ins Homeoffice geschickt.
Am Firmensitz der Airbus-Tochter Satair in Kopenhagen arbeiteten während des Lockdowns im März sogar 95 Prozent der Belegschaft von zu Hause aus. Entscheidend sei gewesen, den Mitarbeitern umgehend die dafür nötige Infrastruktur bereitzustellen, sagt Reijnen. „Die Aufträge der Kunden vom heimischen Wohn- oder Schlafzimmer aus zu betreuen, ist schließlich allein schon eine ziemliche Herausforderung.“
Für Reijnen selbst war die Herausforderung eine andere: Mit einem Dutzend Standorten weltweit sah sich Satair mit ebenso vielen nationalen Verordnungen konfrontiert. „Mein erster Impuls war, den Leuten vor Ort zu sagen, was sie zu tun hätten – doch das war keine gute Idee“, erinnert er sich. Die Mitarbeiter wurden vielmehr angewiesen, auf ihre Standortleiter zu hören, die die lokalen Vorgaben umsetzten. „Eine wichtige Lehre für mich war, dass es in solch einer Situation keinen Sinn ergibt, aus der Zentrale heraus zu lenken“, sagt Reijnen.
Satair
Eine Rakete mit unklarem Kurs
Der Satair-CEO, zuvor in der Raumfahrtbranche tätig, vergleicht die Maßnahmen gegen die Pandemie gerne mit einer dreistufigen Rakete: In der ersten Stufe ging es darum, Sicherheit und Gesundheit der Mitarbeiter sicherzustellen. Als Zweites musste das Geschäft am Laufen gehalten werden – ohne dass die Kunden darunter leiden, wenn ihre Aufträge aus dem heimischen Schlafzimmer bearbeitet werden. Nun, in der dritten Stufe, laut Reijnen der „schwersten und wahrscheinlich längsten“, dominieren wirtschaftliche Aspekte: Liquidität, Kosten, Kapazitäten.
Das Problem: Der Kurs dieser Raketenstufe ist völlig unklar. Auf dem Höhepunkt der Coronakrise prognostizierte die Internationale Luftverkehrs-Vereinigung (IATA), dass das weltweite Passagieraufkommen 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 38 Prozent zurückgehen werde. Knapp vier Wochen später hätten die Schätzungen der IATA bereits bei einem Minus von 48 Prozent gelegen, sagt Rolls-Royce-Manager Resch. „Das ist alles extrem dynamisch – und wir reden hier nur von 2020.“
Wichtig ist, dass sich jeder Spieler in der Branche nun ein Stück weit neu erfindet.
Was die Vorhersage so schwer macht, ist ein, wie Pierre Dominique Prümm es nennt, kombinierter Angebots- und Nachfrageschock: „Wir werden wohl mit weniger Airlines aus der Krise herauskommen, die oftmals hoch verschuldet sind und einen größeren Staatseinfluss haben“, sagt das Fraport-Vorstandsmitglied. Auf der anderen Seite dürften viele Urlauber auch weniger Geld in der Tasche haben. Unternehmen müssten aufgrund der wirtschaftlichen Situation zudem bei Dienstreisen sparen – oder hätten gelernt, dass Videokonferenzen ebenso gut funktionierten.
Neue Denkmuster statt alter Rucksäcke
War es das also mit dem Wachstum? Nicht zwangsläufig. „Wichtig ist, dass sich jeder Spieler in der Branche nun ein Stück weit neu erfindet“, sagt Prümm. Wer das am schnellsten und konsequentesten mache, werde gestärkt aus der Krise hervorgehen. „Wer jedoch in alten Denkmustern verharrt und glaubt, das Wachstum komme irgendwann schon zurück, wird viel zu lange einen viel zu schweren Rucksack mit sich herumschleppen“, so Prümm.
Nachhaltigkeit wird die Luftfahrt grundlegend verändern, sie muss es einfach tun.
Digital und nachhaltig – so soll in den Augen der Manager die neue, alte Luftfahrt aussehen. Passagiere werden vom Check-in über Kofferabgabe, Sicherheits- und Grenzkontrolle bis hin zum Einsteigen von Apps unterstützt. Digitale Konzepte beim Boarding sollen weitgehend Aufgaben übernehmen, für die bisher Personal am Gate eingesetzt werden muss. „Diesen Trend gab es schon vorher, aber er wird durch die Krise ganz sicher beschleunigt“, sagt Joachim Kirsch, Senior Partner und Luftfahrtexperte von Porsche Consulting.
Der andere Trend geht in Richtung Nachhaltigkeit. Obwohl bei Satair die Aufträge im Mai, verglichen mit dem Vorjahr, um zwei Drittel eingebrochen sind und obwohl Geldsparen eigentlich Priorität haben sollte, hat Bart Reijnen einen neuen Vertrag über Ökostrom für die dänische Niederlassung abgeschlossen. Er hat dabei nicht die billigste, sondern eine sowohl kostensparende als auch nachhaltige Option gewählt. „Nachhaltigkeit wird die Luftfahrt grundlegend verändern, sie muss es einfach tun“, sagt der Satair-CEO. „Wir sollten nicht den Fehler begehen, diesem Thema in der Krise weniger Bedeutung zuzumessen.“
Ich bin der festen Überzeugung, dass Technologiesprünge nun schneller kommen.
Auch Rolls-Royce-Manager Resch glaubt, dass die Coronakrise den nötigen Umbau beschleunigen wird. „Ich bin der festen Überzeugung, dass Technologiesprünge nun schneller kommen, nicht zuletzt, weil sich die Struktur der Luftfahrtbranche durch diese Krise signifikant verändern wird.“ Für Rolls-Royce heißt das: noch mehr Fokus auf effizientere Triebwerke, noch mehr Fokus auf alternative Treibstoffe, für die zusammen mit Partnern Standards geschaffen werden sollen. Und: verstärkte Forschung und Entwicklung von voll- und hybridelektrischen Antriebskonzepten, auch wenn das letzte Wort für den Einsatz solch disruptiver Technologien bei den Flugzeugherstellern und Airlines liegt.
Rolls-Royce
Chance für Rückbesinnung auf Qualität
Wann also geht es wieder aufwärts? „Das ist aktuell die Millionenfrage“, sagt Bart Reijnen. Die IATA schätzt, dass das Passagieraufkommen auf Inlandsflügen in zwei Jahren wieder das Niveau von 2019 erreichen könnte. Bei internationalen Flügen soll es hingegen bis 2024 dauern. Drei bis fünf Jahre bis zur vollständigen Erholung, das ist auch die Prognose von Rolls-Royce und Satair, allerdings mit vielen Fragezeichen. Sicher ist für Reijnen nur eines: „Das Umfeld wird nach Corona ein anderes sein, nichts wird so bleiben, wie es ist.“
Dass es eine Erholung geben wird, dass der Luftfahrtmarkt auch künftig wachsen wird, wenn auch von einem niedrigeren Startpunkt aus, daran zweifelt allerdings kaum jemand. „Jeder will, wenn die Möglichkeit besteht, doch wieder in Italien über eine Piazza gehen oder an einem Strand in Spanien sitzen“, sagt Fraport-Manager Pierre Dominique Prümm. „Die Reiselust der Menschen ist ungebrochen – und sie wird nach der Krise vielleicht noch stärker sein als zuvor.“
Bei Rolls-Royce sieht man das ähnlich: „Die Luftfahrt leistet einen unglaublich wichtigen Beitrag für die Gesellschaft, sie ist ein wertvolles soziales Gut und ein entscheidender Treiber für globales Wachstum“, sagt Sebastian Resch. „All das wird zurückkommen, die Frage ist nur wann und wie.“ Porsche-Berater Kirsch sieht im Neustart der Branche eine große Chance: „Statt sich im Preiskampf immer enger einzuschnüren, ist jetzt die Gelegenheit, sich auf die Qualität zurückzubesinnen, für die die Luftfahrt einst stand. Die digitale Transformation bietet dafür enorme Möglichkeiten entlang der gesamten Wertschöpfungskette und kann das Passagiererlebnis völlig neu gestalten helfen.“