Mittel zum Leben
Corona hat auch die Lebensmittelbranche erschüttert. Vier Manager erklären, warum das zu einer Konzentration aufs Wesentliche geführt hat – und wie sie aus der Krise sogar eine Chance machen konnten.
Mehl, Haferflocken, Hefe – an die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln des täglichen Bedarfs wie diese hat bis vor ein paar Monaten niemand einen Gedanken verschwendet. Doch dann kam Covid-19 und damit die Unsicherheit. Sobald die Krankheit sich in einem Land ausbreitete und die Regierung mit Einschränkungen des öffentlichen Lebens reagierte, wurden die Regale in Supermärkten spürbar leerer.
Im Angesicht des unbekannten Virus wollten viele sich wenigstens auf einen prall gefüllten Kühlschrank und eine volle Vorratskammer verlassen können. So weit, so menschlich. Doch diese plötzlichen Hamsterkäufe stellten die Lebensmittelproduzenten weltweit vor nie da gewesene Herausforderungen: Von einem Tag auf den anderen mussten einige von ihnen ihre Produktion umstellen, andere erhebliche Zusatzkapazitäten mobilisieren.
Ein Blick in die Branche zeigt, dass die Unternehmen die Coronakrise mit unterschiedlichsten Methoden bewältigt haben und die Wochen im Ausnahmezustand teilweise sogar nutzen konnten, um neue Impulse umzusetzen und Veränderungsprozesse voranzubringen. Dabei kristallisiert sich durch die Branche hinweg eine Gemeinsamkeit heraus: In Zeiten der Krise konnten sich die Unternehmen ganz besonders auf die Loyalität ihrer Mitarbeiter und Konsumenten verlassen.
Die Folgen des Lockdowns
Doch von vorn: Die tragische Vorreiterrolle in der Coronakrise kommt in der westlichen Welt dem italienischen Markt zu. Denn der Ausbruch von Covid-19 traf das Land gleichermaßen unvermittelt und heftig als erstes. Die dortigen Unternehmen standen daher vor der Aufgabe, die Veränderungen ohne Vorwarnung und Vorbilder bewältigen zu müssen.
Die Out-of-Home-Verkäufe, beispielsweise an Restaurants oder Kantinen, sind um 90 Prozent eingebrochen.
Eins von ihnen ist der Lebensmittelproduzent Granarolo (Umsatz 2019: 1,3 Milliarden Euro), der sich von Beginn an im Auge des Sturms befand, weil sein Hauptsitz und die Mehrheit seiner Produktionsstätten im besonders vom Ausbruch betroffenen Norden des Landes liegen. „Der Lockdown, der auf den Ausbruch des Coronavirus folgte, hatte unmittelbar sehr starke Auswirkungen auf das Konsumverhalten“, berichtet Granarolo-Chef Filippo Marchi im Videoanruf aus seinem Büro. Eine Kuh blickt von einem Plakat über seine rechte Schulter und verrät die Branche seines Unternehmens: Granarolo produziert vorrangig Milchprodukte und verkauft sie in die ganze Welt.
„Die Out-of-Home-Verkäufe, beispielsweise an Restaurants oder Kantinen, die je nach Markt 30 bis 50 Prozent unseres Umsatzes ausmachen, sind um 90 Prozent eingebrochen. Gleichzeitig stieg die Nachfrage nach Grundnahrungsmitteln wie Butter, Mascarpone und Mozzarella stark an.“ Granarolo passte seine Produktion über Nacht an, um dem veränderten Bedarf zu entsprechen: Einzelne Produktionsstraßen wurden stillgelegt, während andere Zusatzschichten schoben. Mit Erfolg, denn der Umsatzrückgang im zweiten Quartal konnte voraussichtlich auf 10 bis 14 Prozent (Stand: Juni 2020) begrenzt werden.
Die Branche hat sich im Angesicht der großen Herausforderungen in der Krise sehr gut präsentiert.
Fischstäbchen, Gemüse – und Ethanol
Die Veränderungen für den deutschen Markt beobachtete Philipp Hengstenberg, Präsident des deutschen Lebensmittelverbandes und Familienunternehmer. Im Norden Europas standen vor allem Nahrungsmittel mit langer Haltbarkeit auf den Einkaufslisten der Kunden. Doch trotz der Vorwarnung aus dem Süden, wo das Virus rund zwei Wochen früher ausgebrochen war, blickten die deutschen Verbraucher zwischenzeitlich in leere Regale. „Die wurden dann aber schnell wieder aufgefüllt“, sagt Hengstenberg und schiebt ein Lob nach: „Die Branche hat sich im Angesicht der großen Herausforderungen in der Krise sehr gut präsentiert.“ Hengstenberg traf mit seinem eigenen Sortiment in puncto Nachfrage ins Schwarze: Konserven mit Sauerkraut oder Tomaten sowie eingelegte Gurken sind die Klassiker des Esslinger Unternehmens. Dauerhaft sei aber nicht mit einer deutlich größeren Nachfrage nach diesen Produkten zu rechnen – wahrscheinlicher sei, dass eine Verlagerung stattgefunden hat: Während sich die Verbraucher ihre Speisekammern füllten, leerten sich die Lagerhallen der Konservenhersteller. „Den Anschluss an die neue Ernte werden wir wieder schaffen, aber so knapp waren die Bestände zu diesem Zeitpunkt noch nie“, so Hengstenberg.
Einigen Unternehmen gelang es indes, besonders hervorzustechen. Etwa dem Tiefkühlkosthersteller Frosta (Umsatz 2019: 523 Millionen Euro) aus dem norddeutschen Bremerhaven, dessen Aktie zwischen dem 20. März und 20. Mai 2020 um 20 Prozent an Wert zugelegt hatte. Doch davon, dass sein Unternehmen einer der Gewinner der Krise sein könnte, will Frosta-Vorstand Maik Busse nichts wissen. Er glaubt vielmehr, dass die gute Leistung in der Ausnahmesituation auf der harten Arbeit der vergangenen Jahre beruht: „Das Vertrauen von Kunden und Partnern kann man sich nicht kurzfristig erarbeiten. Wir konnten in der Krise davon zehren, dass wir es uns über die Jahre hinweg aufgebaut hatten.“
Und in der Tat griffen Verbraucher in der Coronakrise vermehrt zu Frosta-Produkten, allen voran zu Fischstäbchen. „Unser Highlight für kleine Fans“, erklärt Busse schmunzelnd, ebenfalls im Videoanruf. Die Nachfrage wuchs um 70 Prozent. Aber auch Fertiggerichte und Tiefkühlgemüse wurde deutlich mehr gekauft. So viel mehr, dass es zu Engpässen kam:. „Wir hatten teils enorme Probleme, die Nachfrage zu befriedigen, weil wir unsere Rohwaren weltweit beziehen“, sagt Busse. Erst fehlten die Mungosprossen aus China, dann das Gemüse aus Südeuropa und schließlich erwies sich die Logistik als ein komplizierter Knotenpunkt.
Wir als Vorstand waren irgendwann fast abgemeldet.
Mitarbeiter stützen Unternehmen
Auch die Verfügbarkeit von Verpackungen war zwischenzeitlich nicht garantiert, weil das für die Bedruckung notwendige Ethanol fehlte – es wurde für die Produktion von Desinfektionsmitteln gebraucht. „Das hat uns selbst überrascht“, gibt Busse zu. Entscheidend für die Lösung dieser Probleme sei das Krisenmanagement seiner Mitarbeiter gewesen, berichtet Busse: „Ich muss den Hut vor ihnen ziehen, weil jeder lösungsorientiert aufeinander zugegangen ist und niemand mehr in Silos gedacht hat. Wir als Vorstand waren irgendwann fast abgemeldet.“ Gemeinsam fanden die Frosta-Angestellten alternative Zutaten oder neue Lieferanten und federten so die Engpässe ab.
Gerade die Mitarbeiter in den Werkshallen seien zu Höchstleistungen aufgelaufen und hätten sich als verlässliches Rückgrat von Frosta erwiesen, erklärt Busse. Dazu habe auch die Zusammenarbeit mit Porsche Consulting beigetragen: „Die Pilotprojekte für eine verbesserte Arbeitskultur, die wir Ende 2019 in unseren Werken auf den Weg gebracht haben, konnten in der Corona-Krise sofort in erweiterter Form umgesetzt werden und haben die zusätzliche Bedarfsdeckung überhaupt erst möglich gemacht.“
Auch der deutsche Fruchtverarbeiter Zentis aus Aachen (Fruchtzubereitungen, Konfitüren und Süßwaren; Umsatz 2018: 664 Millionen Euro) berichtet von Herausforderungen zu Beginn der Pandemie. „Ein erfolgreiches Supply-Chain-Management lebt von uneingeschränktem globalen Fracht- und Güterverkehr. Im März wurden die Logistikkapazitäten knapp und die Grenzen geschlossen. Unsere Rohwaren beziehen wir weltweit. Als Partner der Industrie und des Handels war die Challenge, eine dauerhafte Rohwarenversorgung sicherzustellen“, erklärt Geschäftsführer Norbert Weichele. Vorteilhaft sei dabei gewesen, dass Zentis eine eigene Logistik betreibt und die Fahrer trotz der großen Unsicherheit und des Lockdowns europaweit unterwegs waren, um die Versorgung sicherzustellen.
Als Partner der Industrie und des Handels war die Challenge, eine dauerhafte Rohwarenversorgung sicherzustellen.
„Bemerkenswert waren der Zusammenhalt und das Engagement der Mitarbeiter in dieser Krisensituation“, resümiert Weichele zufrieden. Er kennt das Aachener Familienunternehmen seit rund einer Dekade, aber die letzten Wochen haben ihn besonders beeindruckt. Ob Einhaltung der Abstandsregeln, die schnelle Umsetzung von Schichtmodellen oder die Verlagerung ins Mobile Office – alle haben Teamgeist demonstriert und sich rasch mit der neuen Situation arrangiert. Besonders hilfreich erwies sich die digitale Infrastruktur, die Zentis vor rund zwei Jahren eingeführt hat. Sie hat sich in der Krise bewährt. So wurde der digitale Wandel bei Zentis dank der Coronakrise entschieden vorangetrieben.
Schub für Wandel und Digitalisierung
Diesen Vorteil bemerkte auch Filippo Marchi in seinem Unternehmen in Bologna: „Wir haben dank des Virus gesehen, dass man auch auf eine andere Art und Weise arbeiten kann, die eine ganze Reihe von Vorteilen birgt“, sagt er. Dadurch, dass alle Büroangestellten plötzlich im Homeoffice gearbeitet hätten, sei klar geworden, dass das digitale Arbeiten eine bessere Balance zwischen Beruf und Privatleben ermögliche und viele zeitraubende Meetings und Dienstreisen eigentlich überflüssig seien. Um diese positiven Effekte auch nach dem Ausnahmezustand beizubehalten, hat Marchi seine Manager beauftragt, gemeinsam mit der Personalabteilung festzuhalten, welcher prozentuale Anteil der Arbeit auch künftig von zu Hause aus erledigt werden kann.
Branchenpionier beim Direktvertrieb
Marchi kann der Coronakrise noch mehr Gutes abgewinnen. So konnte der Einbruch im Geschäft mit Restaurants und Kantinen dazu genutzt werden, dem Umbau des Vertriebs mit der Unterstützung von Porsche Consulting voranzutreiben. Bereits im Vorjahr hatte Granarolo gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen ein Pilotprojekt zur Digitalisierung der Lieferkette (siehe Kasten) durchgeführt. „Diese Krise hat uns nun die Möglichkeit gegeben, den Roll-out auch im Out-of-Home-Bereich entschieden zu beschleunigen, wo die Modernisierung überfällig war.“ Die Umstellung konnte dank Corona auf einen Zeitraum von wenigen Monaten anstelle von eineinhalb Jahren reduziert werden.
Marchi fasst zusammen: „Das Virus hat uns dazu gezwungen, uns auf das Wesentliche unseres Geschäfts zu besinnen.“ Die Produktpalette etwa habe sich in den vergangenen Jahren immer weiter aufgefächert und verkompliziert. Doch in der Krise sei klar geworden, welche Produkte die Konsumenten wirklich bräuchten – und welche nicht. „Wir haben uns sozusagen wieder an unsere lebenswichtigen Organe erinnert und werden das Angebot entsprechend vereinfachen,“ sagt Marchi.
Außerdem habe diese Krise dazu beigetragen, sich daran zu erinnern, dass ein Unternehmen nicht nur aus Umsatzzahlen, sondern aus den Menschen dahinter bestehe: Mitarbeiter und Kunden, um die es sich in einer solchen Ausnahmesituation zu kümmern gelte. Und das sei gelungen. Unter 3.000 Mitarbeitern habe es insgesamt nur drei Coronadiagnosen und keine Ansteckungen am Arbeitsplatz gegeben. Und: „Granarolo hat dazu beigetragen, dass seine Kunden sich in diesem speziellen Moment sicher gefühlt haben, weil seine Produkte stets verfügbar waren.“