Das haben starke Krisenmanager im Gepäck
Krisen treffen Menschen und Organisationen meist unvorbereitet. Gefragt sind dann starke Persönlichkeiten, die den Überblick behalten und besonnen handeln. Was genau zeichnet herausragende Krisenmanager aus?
Die Probleme häufen sich, die Situation läuft aus dem Ruder. Sogar als nervenstark geltende Menschen verlieren den Überblick und reagieren panisch. Die Uhr tickt gnadenlos, das Zeitfenster zur Abwendung noch größeren Unheils schrumpft. Es ist Krise – und sie spitzt sich zu. Ob Ölpest, Erdbeben oder Hungersnot, Krieg, Finanzkrise oder Pandemie: Katastrophen und Krisen können Unternehmen, Individuen oder ganze Gesellschaften treffen, Leid und Tod über die Menschen bringen. Nicht umsonst füllt die Literatur zum Thema Krisenmanagement zahllose Regalmeter.
Auch die Corona-Pandemie hat gezeigt: Gefragt sind Führungspersönlichkeiten, die sich schnell einen Überblick verschaffen. Die unter höchstem Druck einen klaren Kopf behalten und improvisieren können. Die fähige Leute um sich sammeln und weitreichende Entscheidungen in kürzester Zeit treffen. Es ist die Stunde der Menschen, die bereit sind, Grenzen zu verschieben. Es ist die Stunde der „Krisen-Könner”. Die folgenden fünf Beispiele zeigen außergewöhnliche Menschen, die mit Krisen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik umgehen mussten – und welche Eigenschaften und Fähigkeiten sie ausmachen.
Die Organisatorin: Florence Nightingale
Krankenschwester und Hygiene-Pionierin im Krimkrieg
Sprenggranaten, Dampfschiffe, Unterwasserminen: Der Krimkrieg von 1853 bis 1856 gilt heute als der erste industriell geprägte Waffengang der Geschichte und als Vorläufer der brutalen Materialschlachten im Ersten Weltkrieg. Ausgetragen wurde der Konflikt zwischen Russland auf der einen Seite und dem Osmanischen Reich mit seinen Verbündeten Frankreich, Großbritannien und Sardinien-Piemont auf der anderen.
Doch nicht nur die moderne Waffentechnik sorgte für hohe Verluste unter den Alliierten, sondern auch das anachronistische Lazarettsystem. Die britische Krankenpflegerin Florence Nightingale wurde mit den katastrophalen Zuständen in den Militärhospitälern konfrontiert, als sie 1854 mit 38 weiteren Krankenpflegerinnen in die Türkei reiste. Dorthin hatte man verwundete und kranke Soldaten gebracht. Aufgrund einer Cholera-Epidemie waren 3.000 bis 4.000 Soldaten gleichzeitig zu versorgen. Unter den Truppen des Empires spielte sich eine humanitäre Krise ab. Trotz mancher Konflikte mit Ärzten und Pflegekräften um Zuständigkeiten gelang es Nightingale, entscheidende Verbesserungen zu erzielen und die Sterberate unter den Soldaten zu senken. Dabei griff sie weniger in die direkte Betreuung der Patienten ein, stattdessen ließ sie Hospitäler nach damals modernen Pflegestandards umbauen. Nightingale umging das bürokratische Beschaffungswesen der Armee und nutzte von der Londoner Tageszeitung The Times eingeworbene Spendengelder, um Betten, Hemden, Trinkbecher und Socken zu kaufen. Sie ließ Waschgelegenheiten einrichten, Zitronensaft zur Skorbutprävention verabreichen und setzte Gemüse auf den Speiseplan.
Mit Mut, Durchsetzungsvermögen und Organisationsfähigkeit bewies sich Florence Nightingale als außergewöhnliche Krisenmanagerin. Obwohl sie 1856 chronisch krank aus dem Krimkrieg zurückgekehrt war, übertrug sie danach viele der in der Türkei gewonnenen Erkenntnisse auf das zivile Gesundheitssystem Großbritanniens. Unter anderem verfasste sie populäre Leitfäden für Pflegekräfte, gründete eine Pflegeschule und nutzte Sozialstatistiken zur Untermauerung ihrer Thesen.
Der Lebensretter: Ernest Shackleton
Polarforscher und Expeditionsleiter in der Antarktis
Am 27. Oktober 1915 war klar: Es ist vorbei, die Expedition ist gescheitert. Die Mannschaft musste das Schiff verlassen. Seit gut zehn Monaten steckte die „Endurance“, ein knapp 44 Meter langes Dreimaster-Segelschiff mit zusätzlichem Dampfmaschinenantrieb, fest. Nun wurde ihr robuster Rumpf von dem Packeis des Weddellmeeres zerdrückt – trotz 28 Zentimeter dicken Spanten aus Tropenholz. Der Großsegler drohte schnell zu sinken. Die Männer der britischen „Imperial Trans-Antarctic Expedition“ retteten sich auf eine Eisscholle. Nun waren sie auf sich allein gestellt und ihrem Schicksal in der unwirtlichen Eiswelt der Antarktis überlassen. Ihr Glück: Sie hatten einen fähigen und ausdauernden Anführer. Ernest Shackleton.
Mehr als ein Jahr zuvor, am 8. August 1914, hatte der britische Polarforscher irischer Abstammung Shackleton mit 26 Mann Besatzung auf dem 350 Tonnen schweren Holzschiff das englische Plymouth in Richtung Süden verlassen. Ihr ehrgeiziges Ziel: Sie wollten als Erste den antarktischen Kontinent durchqueren. Von Küste zu Küste, über den geografischen Südpol hinweg.
Die Crew für diese risikoreiche Expedition hatte Shackleton sorgfältig aus mehr als 5.000 Bewerbungen ausgewählt: erfahrene Seemänner, versierte Wissenschaftler, dazu noch ein Fotograf und ein Maler, die die Unternehmung visuell festhalten sollten. Shackleton selbst hatte seine nautische Ausbildung bei der britischen Handelsmarine erhalten und seine Kompetenz bereits bei mehreren Expeditionen in die Antarktis unter Beweis gestellt.
Doch neben Erfahrung und Können war es vor allem Shackletons untrügliche Menschenkenntnis, die ihm half, die richtigen Charaktere und Fähigkeiten in seinem Team zur Entfaltung zu bringen. Bereits während der beschwerlichen Reise in die Antarktis hatte Shackleton die Moral seiner Crew mit Fitnessübungen, Hunderennen und Spielen gestärkt. Und auch nach der Havarie der „Endurance“, als die Männer ihre Zelte in der eisigen Antarktis aufschlugen, gelang es ihm, ein Zugehörigkeitsgefühl unter den Crew-Mitgliedern zu schaffen und sie auf ein neues gemeinsames Ziel einzuschwören: ihre Rettung und das bloße Überleben.
Als die Wetterbedingungen nach mehreren Wochen günstiger wurden, führte er die Gruppe in drei Rettungsbooten zunächst auf die unbewohnte Insel Elephant Island. Dort ließ er einen Großteil der Mannschaft zurück, um mit fünf ausgewählten Männern in einem der Boote die Fahrt zu den Walfangstationen auf der Insel Südgeorgien zu wagen und Hilfe zu holen – gut 1.500 Kilometer Segeln über das offene, eisige Meer. Er wählte seinen besten Navigator sowie einen Mann mit Humor, der die Runde aufheitern sollte, und einen besonders motivierten Freiwilligen. Mit dabei waren auch zwei eher pessimistische Zeitgenossen – sie wollte Shackleton nicht bei der Gruppe der Wartenden zurücklassen, da er befürchtete, deren Moral könne geschwächt werden. Nach zwei Wochen Fahrt erreichte er mit dem Rettungsboot Südgeorgien und konnte ein Schiff organisieren, um die Männer auf Elephant Island zu retten.
„Keiner hat sein Leben verloren und wir sind durch die Hölle gegangen“, schrieb Shackleton nach der Rettung an seine Ehefrau Emily. Seine Entschlossenheit und Führungsstärke, basierend auf Werten wie Loyalität und Kameradschaft, gelten als Schlüssel für diese Mannschaftsleistung.
Der Anpacker: Helmut Schmidt
Innensenator Hamburgs während der Sturmflut 1962
Knallharter deutscher Bundeskanzler im Kampf gegen die Terroristen der „Rote Armee Fraktion“. Profilierter Herausgeber einer Wochenzeitung. Gefragter Welterklärer mit Menthol-Zigarette. Helmut Schmidt besetzte im Laufe seines Lebens viele Rollen auf der politisch-gesellschaftlichen Bühne. Keine davon war dem starken Raucher so auf den Leib geschnitten wie jene, die ihm den weiteren Karriereweg ebnete. Und die er in den folgenden Jahrzehnten nach allen Regeln des Selbstmarketings ausschmückte: die des krisenfesten Hamburger „Senators der Polizeibehörde” während der Sturmflut in der Hafenstadt im Frühjahr 1962. Für sein politisches Amt im norddeutschen Stadtstaat, das er Ende 1961 antrat und das vergleichbar mit dem des Innenministers auf Bundesebene ist, hatte Schmidt sein Bundestagsmandat niedergelegt, das er seit 1953 besaß.
Im Februar 1962 peitschte das Tief „Vincinette“ die Wassermassen der Nordsee in die Deutsche Bucht. In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar brachen in Hamburg mehrere marode Deiche. Meterhoch überspülten die eisigen Fluten den hafennahen Stadtteil Wilhelmsburg. Viele Menschen ertranken in ihren Häusern. Am frühen Morgen erreichte Schmidt den Krisenstab im Polizeipräsidium. Der musste wegen flächendeckender Stromausfälle im Licht von Gaslampen tagen. Rettungsaktionen waren bereits angelaufen, Hubschrauber angefragt. Mit seinen guten Kontakten als ehemaliger Bundestagsabgeordneter mobilisierte Schmidt weitere Kräfte von Bundeswehr und NATO. Sein autoritäres Auftreten half ihm dabei, Entscheidungen zu beschleunigen.
„Ich habe mich um die Gesetze nicht gekümmert“, ist eines der Zitate, die von Schmidt (Spitzname: „Schmidt-Schnauze“) über die dramatischen Stunden überliefert sind. Subjektiv mag das richtig sein. Objektiv war der Einsatz des Militärs in Krisenzeiten schon seit einigen Jahren rechtmäßig. Fraglos aber bewerkstelligte es Helmut Schmidt, die verfügbaren Kräfte zu bündeln und viele Menschen aus den bald vereisten Überflutungsgebieten zu retten. Die Flut verursachte Schäden in Milliardenhöhe, 340 Menschen starben. Doch wie viele Opfer wären es ohne den Krisenmanager Helmut Schmidt geworden?
Der Aufräumer: Ken Allen
CEO von DHL Express in der Finanzkrise 2007/2008
„Eine Krise ist die beste Zeit für die Besten, ihr Bestes zu geben“, sagte Ken Allen im Jahr 2010, der zur Zeit der Krise CEO des Logistikdienstleisters DHL Express war. Er wusste, wovon er sprach. 2007/2008 hatte er selbst sein Bestes gegeben und die US-Sparte von DHL Express vor der Pleite gerettet. Und weil der „Krisenhunger” des Briten offenbar nicht gestillt war, orderte er Nachschlag. Nach seiner Beförderung im Jahr 2009 machte er sich daran, als Vorstandschef auch das angeschlagene Mutterunternehmen in Rekordzeit aufzupäppeln. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Finanzkrise die Schwachstellen von DHL Express gnadenlos offengelegt, die Kosten waren zu hoch, die Erlöse zu gering. In Großbritannien und Frankreich schleppte das Unternehmen, dessen Stärke eigentlich die grenzübergreifende Logistik ist, verlustbringende Inlandsgeschäfte mit sich herum. Dazu waren die Verwaltungsstrukturen von DHL verkrustet.
Allens Credo lautet: Weniger ist mehr. Er gilt als Meister darin, Prioritäten zu setzen, den Fokus aufs Wesentliche zu lenken und einen Plan mit aller Konsequenz durchzuziehen. Gleichzeitig besitzt Allen ein feines Gespür dafür, in welche Zukunftsprojekte weiterhin investiert werden muss. In einem Beitrag für den Harvard Business Manager riet Allen Führungskräften 2019, sich in Krisenzeiten nicht nur zu fragen, was man tun sollte. Vielmehr laute die entscheidende Frage oft, was man nicht mehr tun sollte.
Nach diesem Rezept ging Ken Allen 2009 bei DHL ans Werk. Er verkleinerte den Vorstand und reduzierte die Zahl der Regionalverwaltungen. Wenig rentable Geschäftsfelder lagerte er an Kooperationspartner aus. Die Größe der Belegschaft richtete Allen auf den Aufschwung nach der Krise aus, gleichzeitig wurden die Mitarbeiter für den Gewinnbringer internationales Geschäft geschult. An strategisch wichtigen Innovationsprojekten hielt er fest. Der Erfolg der folgenden Jahre gab ihm recht. Bis Ende 2009 sanken die Kosten des Konzerns um 480 Millionen Euro, DHL kam wieder in die Spur. Ken Allen gilt seither als einer der Top-Krisenmanager weltweit.
Die Mutige: Vanessa Nakate
Aktivistin für Klimaschutz und gegen Rassismus
Die Uganderin Vanessa Nakate ist keine Krisenmanagerin im klassischen Sinn. Doch sind die Krisen, denen sich die 23-Jährige entgegenstemmt, auch alles andere als gewöhnlich. Nakate ist Klimaaktivistin und gleichzeitig Kämpferin für eine Welt ohne Rassismus. Für beide Sachverhalte hat sie eine Perspektive, die den meisten Bewohnern des Westens fremd ist: Sie blickt von außen auf die Blase der weiß und industriell geprägten Welt.
Inspiriert von der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg, begann die Studentin im Januar 2019 vor dem Parlament in Ugandas Hauptstadt Kampala für den Klimaschutz zu streiken. Vanessa Nakate hatte beobachtet, dass Hitzewellen, Dürren und Unwetter immer stärker die Lebensgrundlage in ihrer Heimat bedrohen. Außerdem erlebte sie eine Krise in der Krise. Sie erkannte, dass Afrika in der öffentlichen Wahrnehmung der Klimabewegung zu kurz kommt, dass die Bewegung „Fridays for Future“ sich vor allem um die Ängste und Sorgen in den westlichen Industrienationen dreht und dass es der Jugend in Afrika an Wissen zum Thema Klimawandel fehlt – und damit auch an Möglichkeiten, politische Forderungen zu artikulieren. Während befreundete Studenten aus Angst vor Repressalien zu Hause blieben, zog Nakate ihren Streik mutig und entschlossen durch. Plakate und Banner fertigte sie mithilfe ihrer Geschwister, lange demonstrierte sie allein.
Im Januar 2020 reiste Vanessa Nakate zum Weltwirtschaftsforum nach Davos, traf dort Thunberg, die Deutsche Luisa Neubauer und weitere Aktivisten. Es entstand ein Foto der Gruppe, aus dem Nakate von der Nachrichtenagentur AP herausgeschnitten wurde. Nakate nutzte die sozialen Medien, um auf den Vorfall aufmerksam zu machen. „Afrika ist der geringste Verursacher von Kohlendioxid, aber wir sind am stärksten von der Klimakrise betroffen“, sagte sie in einem Twitter-Video. „Wenn ihr unsere Stimmen auslöscht, ändert das nichts. Wenn ihr unsere Geschichten auslöscht, ändert das nichts.“ Hunderttausendfach wurden ihre Tweets und Videos zum Thema geteilt. Die Agentur räumte den Fehler öffentlich ein und tauschte das Foto aus. Ihr entschlossenes Handeln bescherte Nakate viel Aufmerksamkeit – und damit auch ihrem Kampf gegen die doppelte Krise.