# Weitsicht

„Die Informations-
flut darf Ärzte nicht überlasten“

Interview: Der Schweizer Notfallmediziner Aristomenis Exadaktylos fordert bessere Vorbereitung auf Epidemien.

Prof. Dr. med. Aristomenis (Aris) Exadaktylos leitet eine der größten Notaufnahmen der Schweiz. Mehr als 50.000 Patienten jährlich werden am Universitären Notfallzentrum des Inselspitals in Bern behandelt. Alessandro Della Valle

Herr Professor Exadaktylos, als Direktor und Chefarzt des Universitären Notfallzentrums in Bern haben Sie den Ausbruch der Corona-Pandemie unmittelbar mitbekommen. Wie gut haben die Krankenhäuser in Europa Ihrer Meinung nach darauf reagiert?

Aris Exa­dak­ty­los: Wir sind im Febru­ar 2020 auf dem fal­schen Fuß erwischt wor­den, weil wir geglaubt haben, dass sich die Covid-19-Epi­de­mie nicht zu einer Pan­de­mie ent­wi­ckeln würde. Mei­ner Mei­nung nach haben wir uns dabei zu sehr auf die Erfah­run­gen mit vor­he­ri­gen Epi­de­mi­en wie der Vogel­grip­pe, der Schwei­ne­grip­pe oder der MERS-Epi­de­mie ver­las­sen, die für uns Euro­pä­er rela­tiv glimpf­lich ver­lau­fen sind. Als es in Nord­ita­li­en zu einem groß­flä­chi­gen Aus­bruch kam, traf das die Kli­ni­ken dort teil­wei­se völ­lig unvor­be­rei­tet. Das ist so, als ob einem eine Hand­gra­na­te in den Hän­den explo­diert. In ande­ren Län­dern konn­te man zumin­dest den Vor­sprung nut­zen, um sich auf den dro­hen­den Pati­en­ten-Ansturm vor­zu­be­rei­ten. Wir in Bern haben inner­halb kur­zer Zeit von einem kon­trol­lier­ten Sys­tem, in dem elek­ti­ve Pati­en­ten und Not­fall­pa­ti­en­ten par­al­lel behan­delt wur­den, bei­na­he auf ein Kriegs­sze­na­rio umge­stellt. Das bedeu­te­te aber auch, dass wir viel impro­vi­sie­ren muss­ten.

Wenn ein Klinikbereich für eine solche Situation gerüstet sein sollte, ist es dann nicht die Notaufnahme?

Exa­dak­ty­los: Die Not­auf­nah­men in der Schweiz und in Euro­pa haben in den letz­ten Jah­ren einen enor­men Anstieg der Pati­en­ten­zah­len ver­zeich­net. Sie sind Ver­sor­gungs­sta­tio­nen von Men­schen mit lebens­ge­fähr­li­chen Ver­let­zun­gen und Erkran­kun­gen sowie Sam­mel­stel­len für jede Art „sozi­al­me­di­zi­ni­scher“ Fälle. Da geht es um Dro­gen­miss­brauch, psy­chi­sche Pro­ble­me, aber auch um klei­ne­re Ver­let­zun­gen bei Men­schen, die kei­nen Haus­arzt haben. Das zu orga­ni­sie­ren, ist schon unter nor­ma­len Umstän­den eine Her­aus­for­de­rung. Des­we­gen sind alle Kran­ken­häu­ser mit einer gut struk­tu­rier­ten Not­auf­nah­me auch bes­ser in der Lage, auf eine Pan­de­mie, wie wir sie aktu­ell erle­ben, zu reagie­ren. Schließ­lich muss ein Pati­ent mit einem Herz­in­farkt, einem Schlag­an­fall oder einer lebens­ge­fähr­li­chen Ver­let­zung genau­so behan­delt wer­den wie vor der Coro­na-Pan­de­mie. 

Wie schafft man es also, das alles zu bewältigen?

Exa­dak­ty­los: Das ist nur mit einer funk­tio­nie­ren­den Infra­struk­tur zu schaf­fen, ange­fan­gen bei auto­ma­ti­schen Türen bis hin zum IT-Sys­tem. In ers­ter Linie geht es um Sicher­heit. Das ist wie bei einem moder­nen Auto, das die Feh­ler des Men­schen kor­ri­giert. Wir schaf­fen zum einen Red­un­dan­zen, indem wir zusätz­li­che Hin­ter­grund­diens­te instal­lie­ren, die dafür sor­gen, dass fal­sche Ent­schei­dun­gen revi­diert wer­den. Zum ande­ren gehen wir ver­ant­wor­tungs­voll mit unse­ren Res­sour­cen um und set­zen sie da ein, wo sie auch wirk­lich gebraucht wer­den. Dazu kom­men auch noch eine anspre­chen­de zweck­ge­rech­te Hap­tik und Optik der Arbeits­um­ge­bung. Wenn Sie in einem dunk­len Loch Not­fall­me­di­zin betrei­ben, wo die Luft ohne­hin zum Schnei­den ist, zu wenig Leute arbei­ten und die IT nicht funk­tio­niert, dann kom­men Sie in einer Stress­si­tua­ti­on extrem schnell an Ihre Gren­zen. 

Krankenhausmitarbeiter sind während der Pandemie enormen zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Wie gehen Sie damit um?

Exa­dak­ty­losWir haben es mit einer hoch­an­ste­cken­den Krank­heit zu tun. Eine Situa­ti­on wie in Ita­li­en, wo sich auch medi­zi­ni­sches Per­so­nal ange­steckt hat und dann ver­stor­ben ist, ver­ur­sacht natür­lich einen hohen psy­chi­schen Stress bei allen in die­sem Bereich Beschäf­tig­ten. Ganz wich­tig ist es, dem Per­so­nal und den Pati­en­ten samt den Ange­hö­ri­gen das Gefühl zu geben, dass sie sich an einem siche­ren, kon­trol­lier­ten Ort befin­den und nicht auf dem Vor­hof zur Hölle. Wenn Mit­ar­bei­ter impro­vi­sie­ren müs­sen und sich Müll­sä­cke als Schutz über den Kopf oder die Füße zie­hen, dann ist das zwar span­nend für Soci­al Media, aber mas­siv kon­tra­pro­duk­tiv für den gan­zen Betrieb. Wenn man als Mit­ar­bei­ter das Gefühl hat, dass man von sei­ner Insti­tu­ti­on nicht geschützt wird, dann ver­liert man das Ver­trau­en. Und Men­schen, die kein Ver­trau­en haben, sind auf Dauer viel weni­ger bereit, unter schwie­ri­gen Bedin­gun­gen die extra Meile zu gehen. Das war bei uns in Bern glück­li­cher­wei­se nicht der Fall. Wir waren gut aus­ge­rüs­tet und haben allen Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­tern ein Gefühl des Schut­zes und der Sicher­heit geben kön­nen. Und das nicht, weil wir beson­ders wohl­ha­bend sind, son­dern weil wir uns in Frie­dens­zei­ten immer wie­der mit dem Thema bio­lo­gi­sche Kata­stro­phen aus­ein­an­der­ge­setzt haben und über eine enor­me Unter­stüt­zung inner­halb des Insel­spi­tals ver­fü­gen. Das hat die Moral extrem gestärkt. 

Das ist sicherlich in solchen Zeiten auch nötig. Was motiviert Ihre Mitarbeiter noch?

Exa­dak­ty­los: Am Anfang ist die Moti­va­ti­on sehr hoch. Es wird ja kei­ner Not­fall­me­di­zi­ner oder Not­fall­pfle­ger, weil er oder sie dazu gezwun­gen wird. Die Kol­le­gen arbei­ten in der Not­fall­auf­nah­me, weil sie das wol­len, also ist per se eine sehr hohe intrinsi­sche Moti­va­ti­on vor­han­den. Ein Feu­er­wehr­mann hat ja auch keine Angst, wenn es brennt, er hat Respekt. Aber er weiß, dass er genau für die­sen Fall aus­ge­bil­det wor­den ist. Wenn Sie dann noch mer­ken, dass man im Team arbei­tet, die Füh­rungs­kräf­te mit gutem Bei­spiel vor­an­ge­hen und auch die Ärzte aus den ande­ren Abtei­lun­gen inklu­si­ve Pro­fes­so­ren und Chef­ärz­ten an vor­ders­ter Front in die­ser Virus­schlacht mit anpa­cken, dann moti­viert das. Die Mit­ar­bei­ter müs­sen auch mer­ken, dass man sich aktiv um sie küm­mert, sodass sie sich nur um ihren Job küm­mern müs­sen. Da geht es um ver­meint­lich ganz bana­le Sachen, wie dass das Essen auf die Sta­ti­on gebracht wird oder dass Park­plät­ze und Über­nach­tungs­mög­lich­kei­ten zur Ver­fü­gung ste­hen. 

Prof. Dr. med. Aristomenis Exadaktylos, Direktor und Chefarzt des Universitären Notfallzentrums des Inselspitals in Bern Alessandro Della Valle

Die Digitalisierung hilft uns, nichts zu übersehen.

Prof. Dr. med. Aristomenis Exadaktylos
Direktor und Chefarzt des Universitären Notfallzentrums des Inselspitals in Bern

Mussten Sie die Abläufe in Ihrer Notaufnahme anpassen?

Exa­dak­ty­los: Ja, ganz erheb­lich. Zunächst haben wir Covid-Teams gebil­det, die sich nur mit die­sen Pati­en­ten beschäf­tigt haben. Par­al­lel haben wir eine Qua­li­täts­kon­trol­le instal­liert, um zu sehen, ob unse­re Vor­ge­hens­wei­se auch funk­tio­niert. Wir hat­ten ja kei­ner­lei Erfah­rung mit der Krank­heit. Beson­ders wich­tig sind des­halb auch Repor­ting-Sys­te­me, mit denen die Pati­en­ten­da­ten doku­men­tiert und abruf­bar gemacht wer­den. Bei unse­rem Not­fall-Cock­pit, des­sen Grund­la­gen wir schon vor eini­gen Jah­ren zusam­men mit Por­sche Con­sul­ting gelegt haben, wer­den die Zah­len so auf­be­rei­tet, dass die Mit­ar­bei­ter sie schnell erfas­sen und ver­ste­hen kön­nen. Die­ses Visua­li­sie­ren der Daten hat uns extrem gehol­fen, unse­re Pro­zes­se anzu­pas­sen und sie ste­tig zu ver­bes­sern.  

Wo hilft Ihnen die Digitalisierung ganz konkret bei der täglichen Arbeit?

Exa­dak­ty­los: Sie hilft dabei, nichts zu über­se­hen und in jedem Moment die für den Pati­en­ten rele­van­te Infor­ma­ti­on her­aus­fil­tern zu kön­nen. Man darf bei der gan­zen Jagd nach dem Corona­virus ande­re Fälle nicht ver­ges­sen, zum Bei­spiel wenn ein Pati­ent eine Sep­sis durch ein infi­zier­tes Knie hat. So etwas haben wir über digi­ta­le Sys­te­me immer auf dem Schirm. Das ist dann so ähn­lich, wie wenn ein Auto per Warn­si­gnal einen schnel­len Abfall des Rei­fen­drucks mel­det. Die Infor­ma­ti­ons­flut nimmt stän­dig zu. Das darf aber nicht zu einer Infor­ma­ti­ons­über­las­tung füh­ren. Wir ken­nen das Pro­blem aus der Anäs­the­sie. Würde man bei den Moni­to­ren, die stän­dig pie­pen, irgend­wann mal den Alarm weg­drü­cken, merkt man nicht mehr schnell genug, wenn es dem Pati­en­ten plötz­lich schlech­ter geht. Je bes­ser digi­ta­le Sys­te­me wer­den, umso prä­zi­ser ver­ste­hen sie, wel­che Infor­ma­ti­on in die­sem Moment für den behan­deln­den Arzt rele­vant ist. Wenn man keine Pro­zes­se instal­liert, wann etwas gemel­det wird, dann funk­tio­niert das viel­leicht, wenn die Not­fall­ver­sor­gung nor­mal läuft, aber wenn es rich­tig kracht, ver­liert man die Kon­trol­le. 

In der Notfallaufnahme, die als erste Anlaufstelle für Patienten oft überlaufen ist, ist Kommunikation ein wesentliches Thema. Nach welchen Regeln haben Sie diese organisiert?

Exa­dak­ty­los: Wir haben schon rela­tiv früh von einer ver­ba­len auf eine elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on umge­stellt. Jede Ver­ord­nung eines Arz­tes wird digi­tal erfasst und wei­ter­ge­ge­ben. Das war nicht bei allen Mit­ar­bei­tern beliebt, aber gera­de zei­gen sich die enor­men Vor­tei­le. Etwa dass sich die Bewe­gun­gen der Mit­ar­bei­ter auf der Sta­ti­on ver­rin­gern, weil jeder an sei­nem Platz blei­ben und dort die Nach­rich­ten emp­fan­gen kann. Damit konn­ten wir das Soci­al Distan­cing ein­hal­ten und effi­zi­en­ter arbei­ten, da die Infor­ma­tio­nen sehr schnell geflos­sen sind. 

Wir haben uns zu lange in Sicherheit gewiegt.

Prof. Dr. med. Aristomenis Exadaktylos
Direktor und Chefarzt des Universitären Notfallzentrums des Inselspitals in Bern

Welche längerfristigen Schlüsse ziehen Sie aus der Corona-Pandemie?

Exa­dak­ty­los: Wir haben uns zu lange in einer trü­ge­ri­schen Sicher­heit gewiegt. Wir sind dabei, diese Krise zu bewäl­ti­gen, weil Öster­reich, die Schweiz und Deutsch­land über aus­rei­chen­de finan­zi­el­le Mit­tel und funk­tio­nie­ren­de Gesund­heits­sys­te­me ver­fü­gen. Aber wir bewäl­ti­gen so einen Lock­down defi­ni­tiv nicht jedes Jahr. Das Gesund­heits­sys­tem wird von vie­len Poli­ti­kern nicht beson­ders geliebt und geschätzt und ist immer wie­der von har­ten Ein­spa­run­gen betrof­fen. Da müs­sen wir uns wirk­lich über­le­gen, ob das ein Zukunfts­mo­dell ist, falls wir jetzt in ein Jahr­zehnt der Seu­chen ein­tre­ten, in dem wir um jedes Kran­ken­haus­bett dank­bar sein wer­den.  

Das klingt nicht sehr ermutigend …

Exa­dak­ty­los: Wir brau­chen eine welt­wei­te Ver­net­zung im Kampf gegen die Pan­de­mi­en. Trotz aller Kri­tik bin ich über­zeugt, dass das nur über die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on, die WHO, mach­bar ist. Es darf nicht wie­der pas­sie­ren, dass wir erst mit Ver­zö­ge­rung zu Daten und Infor­ma­tio­nen kom­men. Wir brau­chen Trans­pa­renz, inter­na­tio­na­le Früh­warn­sys­te­me und einen Aus­tausch über The­ra­pi­en. Jeden Tag, den ein Sys­tem Zeit hat, sich auf etwas vor­zu­be­rei­ten, ret­tet Mensch­le­ben. Was pas­siert, wenn dies nicht gege­ben ist, sieht man in Ita­li­en. Dort ist keine Zeit gewe­sen, sich auf die Pan­de­mie ein­zu­stel­len. Des­halb muss die WHO gestärkt wer­den. Aktu­ell sind viele inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen wie zahn­lo­se Tiger. Sie kön­nen zwar Län­der ermah­nen, haben aber keine Befug­nis, Sank­tio­nen zu ver­hän­gen oder Maß­nah­men zu ergrei­fen. Auch da muss ein Umden­ken statt­fin­den. 

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